Stand der Technik: Wer sagt, was barrierefrei ist?
Spätestens seit Anfang des Jahres wissen Sie als Leser:in des Mehrsinne Mittwoch, wie das mit der Verpflichtung zum barrierefreien Bauen in Österreich so ist. Woran kann man aber erkennen, ob etwas barrierefrei ist? Wo hört „gut gemeint“ auf, wo fängt „gut gemacht“ an? Und wer oder was bestimmt den Unterschied? Fragen über Fragen.
Und hier kommt gleich noch eine weitere: Wo waren wir nochmal stehen geblieben? In Österreich muss man barrierefrei bauen. Oder wie war das? Nein, man sollte natürlich, aber wenn man es drauf anlegt, kommt man von Gesetzes wegen auch ganz gut ohne davon. Meistens zumindest. Naja, hier und da gibt es doch recht bindende Vorgaben. Zumindest genug, um Umsetzungsunwilligen Grund zum Nörgeln zu geben. Und ja, wahrscheinlich auch aus Sicht all jener, die sich über eine barrierefreie Umgebung freuen, immerhin ein bisschen was. Die Vorgabe allein ist aber erst die halbe Miete. Ab dann kommt man um eine Frage nicht herum: Was muss ich denn jetzt machen, um die Vorgabe zu erfüllen?
Das Rad ist schon erfunden
So manche:r mag der Meinung sein, was barrierefrei ist, läge im Auge des Betrachters bzw. der Betrachterin, sei vielleicht so etwas wie Geschmackssache. Manch andere:r denkt, er oder sie hätte die Weisheit mit Löffeln gegessen und könnte beliebig festlegen, was Barrierefreiheit ausmacht. Von denen, die glauben, der gute Wille allein wäre genug, und ihre ganze Energie darauf verwenden, sich diesen bestätigen zu lassen, wollen wir gar nicht reden. Erstens, weil wir einmal hoffen wollen, dass solche Leute nur Produkt meiner blühenden Phantasie sind. Vor allem aber, weil all diese und ähnliche Ansätze für eines nicht zielführend sind: Ergebnisse, die Zugänglichkeit für einen größtmöglichen Personenkreis mit verschiedensten Voraussetzungen und Fähigkeiten bieten.
Wenn man ein solches universelles Design, wie es die Behindertenrechtskonvention verlangt, erreichen will, kommt man nicht darum herum, sich an einem gewissen gemeinsamen Nenner zu orientieren. Und der findet sich realistischer Weise nicht in den Köpfen einzelner auch noch so genialer Geister. Das muss er aber auch gar nicht, weil er durch Jahre und Jahrzehnte von ganzen Gruppen engagierter und fachkundiger Leute herausgearbeitet wurde und laufend weiterentwickelt wird. Im besten Fall – und das ist besonders wichtig – von Expertinnen und Experten, die aus eigener Erfahrung beurteilen können, worauf es ankommt, um durch Gebautes nicht behindert zu werden. Das Ergebnis kann man nachlesen, und zwar in diversen Leitfäden, Richtlinien und Normen.
Nichts ist perfekt
Falls Sie jetzt glauben, Normen seien das Nonplusultra: nein, so ist es natürlich auch wieder nicht. Nicht zuletzt bedeuten gemeinsame Nenner immer auch, dass man mit Kompromissen leben muss. Aber so läuft in Gemeinschaften halt vieles, damit sie funktionieren können. Außerdem ist es doch immer noch besser, innerhalb eines im Prinzip gewissenhaft unter Berücksichtigung aller Interessen ausgetüftelten Ganzen gewisse Kompromisse einzugehen, als etwas umgesetzt zu sehen, das im blödesten Fall gar niemandem wirklich etwas bringt, oder?
Die Norm empfiehlt
Gut, damit wissen Sie jetzt in etwa, was ich von Normen halte. Davon können Sie sich aber auch nichts kaufen. Viel wichtiger ist: Welche Bedeutung haben sie offiziell? Verbindlich sind Normen schon einmal nicht. Zumindest nicht von Haus aus. Jede Norm kann in einem bestimmten Rahmen für verbindlich erklärt werden. Wäre dieser Rahmen beispielsweise ein Baugesetz, so wäre die Wirkung eine ziemlich flächendeckende. Das ist in Österreich schon einmal nicht gegeben. Einzelne Anforderungen für Barrierefreiheit stehen in der OIB Richtlinie 4, über die Sie an dieser Stelle im Jänner ein bisschen etwas lesen konnten. Was dort steht, ist verpflichtend, aber es ist bei weitem nicht so umfangreich wie das, was die Norm für barrierefreies Bauen unter „barrierefrei“ versteht. Kritische Zungen meinen, es reiche nicht aus, um wenigstens das, was laut Gesetz barrierefrei sein muss, auch wirklich verlässlich zugänglich und nutzbar zu machen.
Weniger flächendeckend, aber punktuell auch wirksam, wäre zum Beispiel, wenn das Einhalten einer Norm als Voraussetzung festgelegt würde, um eine Förderung für ein Projekt zu erhalten. Ganz ignorieren kann man Normen aber nicht einmal, wenn nichts so eindeutig zu ihrer Umsetzung verpflichtet: Sie definieren nämlich den sogenannten Stand der Technik.
Im Zweifelsfall: Objektiv schlägt eingebildet
„Stand der Technik“, dieser Begriff wirkt auf manche ein bisschen wichtigtuerisch. So ähnlich wie ein akademischer Titel, den man stolz vor sich her trägt in der Annahme, dem Blick hinter die Fassade auf die tatsächliche Qualifikation entkommen zu können. Gerade wenn es um Normen für Barrierefreiheit geht, wird der Hinweis darauf, dass es sich hier um den Stand der Technik handelt, ganz gerne belächelt – nach dem Motto „Nur weil sich ein paar Hansln einig geworden sind, dass sie wissen, wo’s langgeht, müssen sie damit nicht recht haben.“ Wie dem auch sei, in der Praxis, wenn es darum geht zu beurteilen, ob nun barrierefrei gestaltet wurde oder nicht, spielen Normen eine wesentliche Rolle. Das gilt auch im Zusammenhang mit Gesetzen: Auch, wenn das Einhalten der Normen für Barrierefreiheit weder im Baurecht noch im Behindertengleichstellungsgesetz vorgegeben ist – wenn es hart auf hart kommt, leuchtet das Argument „ich habe alle bekannten Normen zu dem Thema eingehalten“ mehr ein als „ich finde, das passt schon so“. Normen sind sicher nicht das Maß aller Dinge, aber das Kriterium „besser als gar nichts“ erfüllen sie in puncto Objektivität allemal.
Beim Namen genannt
Jetzt wissen Sie also, wo man nachlesen kann, was so landläufig in Österreich als barrierefreies Gebäude gilt. Moment, streng genommen wissen Sie genau das noch nicht. Deshalb bekommen Sie jetzt abschließend noch die Titel der beiden wichtigsten österreichischen Normen in diesem Zusammenhang: Die ÖVE/ÖNORM EN 17210 „Barrierefreiheit und Nutzbarkeit der gebauten Umgebung – Funktionale Anforderungen“ und die ÖNORM B 1600 „Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen“. Wenn Sie sich jetzt fragen, woher der wohlige Duft nach frisch Gebackenem plötzlich kommt: Den verströmt die ÖNORM B 1600, die gerade letzte Woche in ihrer überarbeiteten Version erschienen ist. Mehr dazu, was neu ist und was das Ganze mit der ÖVE/ÖNORM EN 17210 zu tun hat, aber ein andermal.
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