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Digitaler Dienstag Juni 2022

    Zeitgerecht und zeitgemäß: Inklusion bei der digitalen Grundbildung

    Das aktuelle Schuljahr ist noch nicht einmal ganz vorbei, doch die Vorbereitungen auf das nächste laufen allerorts auf Hochtouren. Unter anderem betrifft das heuer ein Thema, das hinsichtlich frühestmöglicher gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe von großer Bedeutung ist: das neue Pflichtfach „Digitale Grundbildung“ an Österreichs Schulen. So kommt es, dass wir Sie diesmal nicht mit virtuellen Grillwürsteln oder digitalem Sommerspritzer in Richtung Urlaubsstimmung treiben, sondern davon berichten, wie wir uns dafür einsetzen, dass beim Start mit dem neuen Schulfach im Herbst auch blinde und sehbehinderte Schüler:innen voll zum Zug kommen.

    Wenn ich an meinen ersten – und eigentlich auch letzten – Informatikunterricht in der AHS Unterstufe zurückdenke, erscheint vor meinem inneren Auge ein zu dieser Aufgabe verdonnerter mittelmäßig motivierter Mathematiklehrer, der uns zeigte, wie wir in „Write“ das Programm für den nächsten Musik-Klassenabend möglichst stundenfüllend abtippen. So gewissenhaft ich dieser Anleitung jedes Mal gefolgt bin, kann ich mich aus vollster Überzeugung als nicht „digital native“ bezeichnen. Für uns war es damals eine neue Erfahrung, mit der Computermaus ein Icon am Bildschirm anzusteuern, ein Programm zu öffnen und darin ein paar krakelige Linien zu kritzeln oder die Kenntnisse aus dem Maschinschreibkurs mit weniger Fingermuskelkater im Ergebnis auf der PC-Tastatur anwenden zu können. Für meine Kinder ist es keine vierzig Jahre später das Normalste vom Normalen, Buchstaben, die sie gerade einmal kennenlernen, in eine Smartphone-Tastatur zu tippen, und wahrscheinlich vollkommen unvorstellbar, ihr aktuelles Lieblingslied nicht innerhalb weniger Sekunden am Handy gesucht, gefunden und in Dauerschleife gehört zu haben. Und das, obwohl sie sicherlich zu jenen Kindern gehören, die vergleichsweise eingeschränkt Zugang zu digitalen Medien bekommen.

    Höchste Zeit für Anpassungen

    Wie bei allen technischen Entwicklungen im Laufe der Geschichte gibt es auch zu dieser die verschiedensten Standpunkte von Verherrlichung bis Verteufelung und dem ganzen großen Spektrum dazwischen. Egal, wie man persönlich dazu steht – ignorieren lässt es sich nicht, dass wir im digitalen Zeitalter angekommen sind. Das bringt in den verschiedensten Lebensphasen gleichermaßen Chancen wie Herausforderungen und Gefahren. Klar ist auch, dass der Schulunterricht angesichts dieser Entwicklungen nicht derselbe sein kann wie noch vor dreißig oder vierzig Jahren. Nicht zuletzt ist es ja die Schule, in der die Vorbereitung auf viele weitere Lebensphasen stattfindet und wo in den verschiedensten Bereichen der Grundstein dafür gelegt wird, ob sich etwas später für den und die Einzelne eher als Chance oder als womöglich unüberwindbare Herausforderung darstellt. Es ist also gut und wichtig, Schülerinnen und Schülern bei der ganzen Flut von digitalen Medien und den vielen Fähigkeiten, die sie sich schon früh wie von selbst in diesem Bereich aneignen, nach einem wohl überlegten Konzept Unterstützung bei einem vernünftigen Umgang mit all dem anzubieten.

    Inklusion von Anfang an

    Die zunehmende Digitalisierung bietet gerade für blinde Menschen und Menschen mit Sehbehinderungen oft Möglichkeiten, die vor nicht allzu langer Zeit unvorstellbar gewesen wären. Das große „Aber“ dabei: alles, was zur „digitalen Welt“ so dazu gehört, muss so gestaltet sein, dass es für alle zugänglich ist, denn sonst schlägt das Ganze schnell ins Gegenteil um. Und da hapert es leider nach wie vor oft noch ganz gewaltig. Wo könnte das Problem besser bei den Wurzeln gepackt werden als in einem verpflichtenden Gegenstand in der Schule?

    An alle gedacht?

    Als sogenannte verbindliche Übung gab es das Fach „Digitale Grundbildung“ an Mittelschulen und AHS-Unterstufen bereits seit dem Schuljahr 2017/2018. Nun wird das Ganze noch fester verankert, indem es mit September 2022 in ganz Österreich in der 5. bis 8. Schulstufe ein eigenes Pflichtfach mitsamt Benotung geben wird. Die Inhalte gliedern sich in dreierlei Bereiche: Erstens soll grundlegende digitale Kompetenz, also der Umgang mit Hard- und Software, vermittelt werden. Zweitens sollen die Schülerinnen und Schüler sich damit beschäftigen, welche gesellschaftlichen Wechselwirkungen sich durch den Einsatz dieser digitalen Technologien ergeben und wie sie sinnvoll genutzt und kritisch bewertet werden. Sie sollen also eine gewisse Medienkompetenz erlangen. Drittens soll eine Auseinandersetzung mit den unmittelbaren Interaktions- und Handlungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit digitalen Medien stattfinden.

    Das klingt ja soweit einmal alles sehr gut und sinnvoll. Die große Frage für uns dabei: Wurde daran gedacht, dass blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler alle Lehrinhalte in vollem Umfang vermittelt bekommen und damit ebenso zeitgemäß wie ihre Mitschüler:innen auf ein selbstbestimmtes Leben in der heutigen digitalisierten Welt vorbereitet werden?

    Lehrplan mit Lücken

    Die Möglichkeit, sich damit näher zu befassen und auch aktiv einzubringen ergab sich im Rahmen der Begutachtung eines Entwurfs für den Lehrplan zum neuen Pflichtfach. Der BSVÖ hat diese Gelegenheit wahrgenommen und Anfang Mai dieses Jahres eine Stellungnahme eingebracht. Wohlwissend, dass in diesem Rahmen bestenfalls Anpassungen am Lehrplan selbst erwirkt werden können, haben wir uns auch generell zum Konzept hinter der Einführung des Pflichtgegenstandes mit allen Begleitmaßnahmen geäußert. Das geschah in der Hoffnung, dass das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, an das die Stellungnahmen zu adressieren waren, auf diesem Weg auch weitere Empfehlungen für Maßnahmen in seinem Verantwortungsbereich wahrnehmen würde.

    Grundforderung unserer Stellungnahme war, dass digitale Grundbildung Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen im Sinne der UN Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen gleichermaßen zugänglich sein muss wie ihren Mitschüler:innen. Darüber hinaus war es uns wichtig zu betonen, dass die Auswahl der Inhalte, die vermittelt werden, so erfolgen soll, dass bei allen Schülerinnen und Schülern eine selbstverständliche Herangehensweise an das Thema der universellen Gestaltung digitaler Medien und Angebote gefördert wird. Das soll heißen, dass die Schüler:innen lernen sollten, von Haus aus daran zu denken, dass digitale Medien und Angebote für eine große Zielgruppe mit verschiedensten individuellen Möglichkeiten und Voraussetzungen zugänglich sein müssen, und auch danach handeln.

    Was wollen wir?

    Was wir genau in unserer Stellungnahme fordern und empfehlen, können Sie direkt dort nachlesen. Die können Sie unter folgendem Link herunterladen: https://www.blindenverband.at/media/file/751_Digitale_Grundbildung_BSVOe_Stellungnahme_20220504.pdf. Im Wesentlichen haben wir vier Handlungsfelder aufgezeigt: technische Hilfsmittel, Barrierefreiheit der Lehrmittel, Qualifikation des Lehrpersonals und Inhalte des Unterrichts.

    Bei den ersten beiden Punkten geht es darum, dass Schüler:innen mit Behinderungen von Anfang an die Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden, die sie brauchen, um mit möglichst gleichwertigen Voraussetzungen wie ihre Mitschüler:innen starten zu können. Dazu gehört natürlich auch eine kompetente Einschulung in den Umgang mit diesen Hilfsmitteln. Ist das einmal gegeben, ist es ganz wichtig, dass die Materialien, die im Unterricht genutzt werden, auch barrierefrei sind. Sind sie das nicht, nützt die ganze Hilfsmittelausstattung und die Kompetenz im Umgang damit nichts.

    Mit dem dritten und vierten Punkt wollen wir darauf hinaus, dass ein Selbstverständnis hinsichtlich Inklusion im digitalen Bereich nur von Lehrpersonal vermittelt werden kann, das auch selbst davon eine ausreichende Vorstellung und die Relevanz verinnerlicht hat. Dazu müssen Lehrerinnen und Lehrer gewisse Basiskenntnisse darüber haben, welche technischen Hilfsmittel es gibt und wie digitale Medien damit genutzt werden. Es braucht also ein eigenes Fach „digitale Barrierefreiheit“ im Rahmen der Ausbildung für Lehrerinnen und Lehrer. Außerdem muss im Lehrplan für das Schulfach explizit erwähnt werden, dass ein Verständnis für universell gestaltete digitale Medien und Angebote, also digitale Barrierefreiheit, zu vermitteln ist.

    Wie geht es nun weiter?

    Ob und in wieweit unsere Empfehlungen Eingang in den Lehrplan für den kommenden Herbst finden, liegt außerhalb unseres Einflussbereichs. Dass alle Lücken mit einem Mal geschlossen werden, ist wohl leider nicht ganz realistisch. Wir sind überzeugt, dass die Berücksichtigung digitaler Barrierefreiheit bei der digitalen Grundbildung nicht nur für die Chancengleichheit aller Schülerinnen und Schüler im späteren Leben enorm wichtig ist, sondern auch für Auftraggeber:innen, die darauf angewiesen sind, dass ihre Entwickler:innen den immer strenger werdenden gesetzlichen Vorgaben hinsichtlich digitaler Barrierefreiheit gerecht werden können. Der BSVÖ wird daher an diesem Thema dran bleiben und weitere Initiativen setzen, bis wir es mit zeitgemäßen und zufriedenstellenden Verhältnissen zu tun haben.

    Kontakt

    Im Juli und August gönnt sich der digitale Dienstag heuer eine Sommerpause. Selbstverständlich sind uns auch währenddessen über Ihre Fragen und Anregungen zu diesem oder anderen Thema per E-Mail an Doris Ossberger unter barrierefrei@blindenverband.at herzlich willkommen. Ansonsten freuen wir uns auf ein Wiederlesen im September!