Namensgebendes Prinzip: Der Sinn hinter „Mehr-Sinne“
Wenn Sie bei „Mehrsinne Mittwoch“ neugierig werden, was sich das Wellnesshotel Ihres Vertrauens da für ein feines Spezialprogramm hat einfallen lassen, müssen wir Sie leider enttäuschen. Oder auch nicht, denn hinter dem Namensgeber unserer neuen Rubrik im BSVÖ Newsletter steckt etwas, das weit mehr als vorübergehende Entspannung bringt: langfristige Inklusion. Warum das so ist, erklärt der heutige erste Beitrag, dem viele weitere folgen sollen.
Seit bald einem Jahr haben wir uns angewöhnt, im Rahmen des „Digitalen Dienstag“ einmal im Monat über ein Thema rund um die Zugänglichkeit digitaler Angebote zu berichten. Der digitale Bereich ist zwar ein wichtiger, aber eben nur einer von vielen Teilbereichen der Barrierefreiheit. Deshalb haben wir beschlossen, uns in einer weiteren Reihe den restlichen Aspekten zu widmen. Der „Mehrsinne Mittwoch“ wird ab sofort am vierten Mittwoch jedes Monats erscheinen und sich mit verschiedensten Themen im Zusammenhang mit Barrierefreiheit beschäftigen, von denen wir glauben, dass sie für Sie in Ihrem täglichen Leben nützlich sein könnten.
Wer steckt dahinter?
„Wir“, das ist in diesem Fall der BSVÖ mit seiner Kompetenzstelle für Barrierefreiheit, die Sie vielleicht noch unter ihrem alten Namen „Referat für barrierefreies Bauen“ kennen. Auch der „Digitale Dienstag“ kommt aus derselben Feder, nämlich der von Doris Ossberger, die die Kompetenzstelle leitet. Das Team dahinter ist aber ein etwas anderes: Der BSVÖ hat in ganz Österreich Expertinnen und Experten, die alle selbst eine Sehbehinderung haben oder blind sind und aus ihrer Beratungspraxis und Zusammenarbeit über langjähriges Wissen verfügen, wenn es um barrierefreie Mobilität und Infrastruktur geht. Sie arbeiten im sogenannten Gremium für Mobilität und Infrastruktur (GMI) zusammen, das von Frau Ossberger koordiniert wird. Teil des Teams sind beispielsweise auch Orientierungs- und Mobilitätstrainer:innen. Diese Zusammensetzung ist eine optimale Basis, um Problemstellungen direkt aus der Praxis aufzugreifen, einheitliche Positionen dazu abzustimmen und diese dann wiederum bei verschiedensten Gelegenheiten in ganz Österreich an den Mann, die Frau und auch alle anderen zu bringen.
Altbewährtes Wissen in neuem Format
Im Laufe der letzten zehn Jahre hatten wir Gelegenheit, unzählige Themen gemeinsam zu bearbeiten, und die dürften uns auch in den nächsten zehn Jahren nicht ausgehen. Leider wissen nur relativ wenige von den Ergebnissen dieser Arbeit oder kennen uns als Ansprechpartner:innen. Das ist schade, denn dadurch ist der Kreis derer, die davon profitieren, kleiner als er sein könnte. Außerdem ist es schwieriger herauszufinden, was für unsere Zielgruppe am wichtigsten ist und wofür wir uns daher besonders einsetzen sollen.
Mit dem „Mehrsinne Mittwoch“ starten wir einen Versuch, in beiden Bereichen Verbesserungen zu schaffen: Einerseits möchten wir Ihnen interessante Informationen, die aus unserer Arbeit hervorgehen, weitergeben. Andererseits wollen wir Ihnen eine Gelegenheit geben, mit uns in Kontakt zu treten und unser „Programm“ angepasst an das, was Ihnen wichtig ist, mitzugestalten.
Was steckt dahinter?
Was hat es aber nun mit den „mehr Sinnen“ auf sich? Ob es nun die gebaute Umgebung, Geräte und andere Produkte, verschiedenste Informationsmedien, die Gestaltung von Dienstleistungen oder auch einfach den sozialen Umgang miteinander betrifft: damit alle Menschen diese Angebote gleichermaßen nutzen bzw. daran teilhaben können, ist es von unglaublich großer Bedeutung, dass alles, was man dafür wahrnehmen können muss, mit mehr als nur einem Sinn wahrgenommen werden kann. Klingt kompliziert? Ist es aber gar nicht: Hörbares muss auch sichtbar sein, Sichtbares auch hör- oder tastbar und am besten ist es überhaupt, wenn etwas gleichzeitig sicht-, hör- und tastbar ist. Immer noch zu abstrakt? Versuchen wir es mit ein paar Beispielen.
Aus dem Alltag gegriffen
Starten wir doch mit etwas für uns alle ganz Vertrautem: der alltäglichen Kommunikation. Nehmen wir an, Sie treffen sich mit einer guten Freundin und wollen sie begrüßen. Da gibt es ja so einige bekannte Rituale, die uns in Pandemiezeiten teilweise nicht einmal mehr so vertraut sind. Schauen wir uns aber den Schritt davor an, den Moment, in dem Sie Ihre Freundin darauf aufmerksam machen wollen, dass Sie da sind. Wie Sie das machen, hängt natürlich zum Teil von Ihren persönlichen Gewohnheiten und Vorlieben ab. Wahrscheinlich wird es irgendeine Kombination aus Winken, Lächeln, „Hallo“ Sagen und vielleicht noch einer dezenten Berührung an einem unverfänglichen Körperteil sein. Je nachdem, wie die konkrete Situation aussieht, werden Sie eine oder mehrere dieser Gesten ganz automatisch verstärkt einsetzen.
Treffen Sie Ihre Freundin an einer Stelle, wo nebst ohrenbetäubendem Baustellenlärm gerade im Minutentakt Züge an- und abfahren, dann werden Sie vermutlich darauf achten, sich in ihr unmittelbares Blickfeld zu begeben und während Sie auf sie zugehen besonders eindrücklich zu lächeln und zu fuchteln … äh … winken, damit sie Sie bemerkt und sich nicht trotz Ihrer verbalen Begrüßungsversuche überfallen fühlt. Ist die Umgebung ruhig, aber Ihre Freundin erwartet Sie mit einem konzentrierten Blick in die Richtung, aus der Sie ganz genau nicht kommen, werden Sie intuitiv vielleicht hauptsächlich darauf setzen, sie durch ein glockenhelles „Ja grüß‘ Dich, meine Freundin, wie schön Dich zu sehen!“ dazu zu bewegen, sich umzudrehen – es sei denn das Klappern Ihrer Stöckelschuhe, das Quietschen Ihrer Turnschuhe oder das Schlapfen Ihrer Schlapfen hat schon schneller dazu geführt. Kombinieren wir die weggedrehte Freundin mit der geräuschvollen Umgebung, dann könnte es sein, dass Sie auch, wenn Sie normalerweise darauf verzichten, Ihrer Freundin vielleicht vorsichtig auf die Schulter tippen, anstatt eine Runde um sie herum zu gehen und Ihr Gesicht unmittelbar vor dem ihren zu platzieren.
Dann könnte es natürlich auch sein, dass Ihre Freundin in einer ganz ruhigen Umgebung auf Sie wartet und Sie genau aus der Richtung erwartet, aus der Sie kommen, aber nicht gut hört. Oder sie sieht nicht gut. Oder sie sieht und hört nicht gut. Oder sie sieht nicht gut und die Arbeiter:innen auf der benachbarten Baustelle nehmen gerade ihre lautstarke Arbeit wieder auf. All das sind Situationen, in denen Sie ganz selbstverständlich und ohne viel nachzudenken das sogenannte Mehr-Sinne-Prinzip anwenden.
Die Kurve zu Barrierefreiheit
Jetzt werden Sie sich vielleicht denken: „Für wen hält die sich eigentlich, dass sie mir erklärt, wie ich meine Freundin begrüßen soll?“ Gleichzeitig ahnen Sie bestimmt schon, dass ich darauf gar nicht hinaus wollte. Aber Sie haben schon Recht, eigentlich wollte ich Ihnen ja etwas über Barrierefreiheit erzählen und darüber, was das Mehr-Sinne-Prinzip damit zu tun hat. Versuchen wir also diese Kurve zu kratzen.
Eines meiner Lieblingsbeispiele aus dem Bereich Mobilität sind Ampeln. Traditionellerweise sind die ja mit ihren sogenannten „Lichtsignalen“ – also dem roten und grünen Licht, das „Stehen“ und „Gehen“ signalisiert – etwas nur Sichtbares. Ein paar schlaue Köpfe haben sich vor geraumer Zeit überlegt, wie man diese sichtbaren Signale auch hörbar machen kann. Bei uns wird das meistens als langsames und schnelles Klopfen oder „Tackern“ umgesetzt. Damit hätten wir schon einmal ein „Zwei-Sinne-Prinzip“ erfüllt. Diesen Begriff werden Sie übrigens auch hin und wieder lesen und er bedeutet im Grunde genau dasselbe wie das „Mehr-Sinne-Prinzip“: dass Informationen und Signale mit zwei oder mehr einander ergänzenden Sinnen wahrnehmbar sind. Ampeln – wenn sie richtig barrierefrei ausgeführt sind – gehen darüber aber hinaus. Ihre Signale können nämlich auch ertastet werden. Legt man den Finger auf die Unterseite des sogenannten „Anmeldetableaus“, das meist am Ampelmast angebracht ist, spürt man einen erhabenen Pfeil, der in die Richtung zeigt, in die die Fahrbahn gequert wird. Die Grünphase der Ampel – also das „Gehen“ – wird angezeigt, indem dieser Pfeil vibriert.
Diese Ausstattung von Ampeln nach dem Mehr-Sinne-Prinzip wird nach wie vor oft als „Hilfssignal für blinde Menschen“ oder gar als „Blindenakustik“ bezeichnet. Und es stimmt natürlich, dass sie für blinde Menschen und Menschen mit Sehbehinderungen ganz besonders wichtig ist, um ohne fremde Hilfe sicher unterwegs sein zu können. Dennoch, wenn man genauer hin schaut … oder hin hört … oder hinein fühlt, kann man ganz viele Situationen entdecken, in denen auch Menschen, die unter optimalen Umgebungsverhältnissen die rote und grüne Ampel ganz gut sehen können, von den hör- und tastbaren Signalen profitieren, wenn sie nur wissen, dass es sie gibt. Denn sind wir uns ehrlich: gerade die Orientierung im Straßenverkehr ist für die größten Adleraugen unter uns keine rein visuelle Sache und ganz ohne akustische Eindrücke fehlen uns wesentliche Informationen, die wichtig sind, damit wir sicher unterwegs sein können. Wir könnten die Ampeln also auch einfach „Ampeln“ nennen und uns daran gewöhnen, dass sicht-, hör- und tastbare Signale gleichermaßen zu einer Ampel gehören und nichts davon eine Spezialausstattung für irgendjemanden ist.
Auf den Punkt gebracht: universelles Design und Inklusion
Und das ist das Wunderschöne am Mehr-Sinne-Prinzip: es ist eigentlich etwas ganz Selbstverständliches, das wir alle in vollkommen alltäglichen Situationen ständig anwenden. Wird es bewusst verinnerlicht und dort, wo es noch nicht so selbstverständlich ist, umgesetzt, schaffen wir Umgebungen, Produkte, Dienstleistungen und vieles mehr, die für alle besser nutzbar sind und beziehen dabei in dieses „alle“ Menschen mit Behinderungen ohne viel Tamtam mit ein. Das ist universelles Design, wie es im Buche – namentlich dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen – steht. Das ist der Weg, auf dem gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe, die Inklusion, erreicht werden kann. Nichts Geringeres streben wir mit unserer Arbeit an. Und genau deshalb stellen wir unsere Rubrik zum Thema Barrierefreiheit unter dieses großartige Motto, das für weit mehr als „nur“ Wohlbefinden sorgen kann – aber nicht zuletzt auch dafür.
Helfen Sie uns beim Maßschneidern!
Dass wir diese Rubrik ins Leben gerufen haben, hat einen wesentlichen Grund: Wir wollen Ihnen Informationen bieten, die Sie interessieren, die Sie in Ihrem Alltag brauchen können. Bis zu einem gewissen Grad können wir aufgrund unserer Erfahrung erahnen, was das sein könnte. Und wir hoffen natürlich, dass zumindest hier und da für jeden und jede von Ihnen etwas dabei ist. Am liebsten wäre es uns aber, wenn wir ganz gezielt auf das eingehen könnten, das für Sie nützlich ist. Also: Wenn es ein Thema gibt, zu dem Sie gerne Informationen hätten, melden Sie sich jederzeit gerne bei Doris Ossberger unter barrierefrei@blindenverband.at – vielleicht lesen Sie ja schon demnächst im „Mehrsinne Mittwoch“ darüber!