Genau betrachtet: Das will die Norm auf Glasflächen sehen
Verglaste Wände und Türen sind superschick und praktisch. Zumindest bis zum ersten Zusammenstoß. Dann ändert sich die Wahrnehmung und etwas mehr Sichtbarkeit klingt auf einmal verlockend. Aber wie könnte die aussehen?
Transparenz ist doch etwas Wunderbares. Und zwar nicht nur im übertragenen Sinn, sondern auch ganz herkömmlich in der gebauten Umgebung. Licht kann herein, wir sehen und werden gesehen. Was wir nur leider oft nicht sehen, sind die transparenten Elemente selbst. Und das ist ein Problem – nicht zuletzt, weil die Materialien solcher Elemente nicht gerade für Elastizität und Flauschigkeit bekannt sind.
Schon wieder kein Nischen-Thema
Wer der Meinung ist, das wäre nur für blinde Menschen ein Problem, liegt falsch. Wie bitte, Sie denken, da habe ich mich wohl vertippt? Sie denken, dass es für blinde Menschen egal ist, ob sie durch eine Wand, die sie nicht sehen, durch sehen könnten, wenn sie sie sähen, müsste doch klar sein? Sie würden sich wundern! Aber natürlich haben Sie recht. Blinde Menschen tangiert dieses Problem ausnahmsweise am wenigsten. Es sei denn, sie sorgen sich um ihre sehenden Mitmenschen. Die sind nämlich allesamt davon betroffen. Und zwar ganz besonders diejenigen, die vergleichsweise achtlos durch die Gegend spazieren, weil sie keine Sehbehinderung haben, die sie gelehrt hat, besser etwas vorsichtiger unterwegs zu sein.
Ihr gutes Baurecht
Im Baurecht, genauer gesagt in der OIB Richtlinie 4 mit dem schönen Titel „Nutzungssicherheit und Barrierefreiheit“, gibt es so manche schöne Barrierefreiheitsanforderung. Der Wehrmutstropfen: Viele davon gelten nur für jene Gebäude und Gebäudeteile, die man barrierefrei gestalten muss. Das Kennzeichnen transparenter Flächen, bei denen Aufprallunfälle zu erwarten sind, ist da eine erfreuliche Ausnahme. Es ist nämlich für alle allgemein zugänglichen Bereiche vorgegeben. Nur wie diese Kennzeichnung aussehen soll, damit sie auch tut, was sie soll, bleibt darin offen.
Verantwortungsvolle Aufgaben
Aber was soll sie eigentlich tun? Ganz einfach: Eine transparente Fläche, zum Beispiel eine gewissenhaft geputzte Glaswand, kann man schnell einmal für einen freien Durchgang halten. In manchen Situationen passiert das besonders leicht. Stellen Sie sich zum Beispiel eine Glaswand direkt neben einem tatsächlichen Durchgang vor, auf die noch dazu die Wege durch das Gebäude von beiden Seiten direkt zulaufen. Oder eine Glaswand, die nicht immer da ist: Wie zum Beispiel in einem Bankfoyer, das außerhalb der Öffnungszeiten der Bank vom restlichen Raum abgetrennt wird, in den Sie gewohnt sind weiter gehen zu können.
Das sind nur zwei Beispiele, wo eine deutliche Kennzeichnung vermeiden kann, dass Sie gegen die Wand laufen und sich verletzen. Gleichzeitig soll die Kennzeichnung auch zeigen, wo Sie eben schon durchgehen können. Wenn es sich um einen offenen Durchgang handelt, ist das damit getan, dass dieser im Gegensatz zur angrenzenden Fläche eben nicht gekennzeichnet ist. Bei Türen hilft eine richtige Kennzeichnung jene Stelle zu finden, auf die Sie zugehen müssen, damit sie sich öffnet oder um sie selbst zu öffnen.
Der Stand der Technik
Das ist es, was Normen definieren. Und gleichzeitig das, worauf man sich verlässt, dass es Planer:innen kennen, wenn man im Baurecht nicht näher beschreibt, wie man transparente Hindernisse kennzeichnen soll. In Österreich haben wir zwei bekanntlich zwei Normen, die die Grundanforderungen barrierefreien Bauens bereithalten:
Die ÖNORM EN 17210 enthält funktionelle Anforderungen. Sie sagt im Wesentlichen nichts anderes als das, was ich Ihnen gerade erzählt habe: Es ist wichtig, Glastüren und verglaste Elemente deutlich und dauerhaft sichtbar zu markieren, damit niemand dagegen läuft. Insbesondere Glastüren müssen durch die Markierung deutlich sichtbar von der umgebenden Wand abgegrenzt sein und man muss die Öffnungsrichtung erkennen können.
Eine genauere Vorstellung davon, wie Sie diese Ziele erreichen können, bekommen Sie, wenn Sie die ÖNORM B 1600 lesen. Dort gibt es zunächst einmal ein paar grundsätzliche Anforderungen, die jede Markierung unabhängig von der sonstigen Gestaltung erfüllen muss: Sie darf nicht transparent oder teiltransparent sein, sie muss bei unterschiedlichen Beleuchtungsverhältnissen sichtbar sein, sie muss aus gleich großen und gleichmäßig verteilten Flächenanteilen mit einem Kontrast der in der ÖNORM B 1600 genau definierten Kontraststufe II bestehen und ihre Sichtbarkeit darf nicht zum Beispiel durch Spiegelungen oder Anbringung hinter getöntem Glas beeinträchtigt sein.
Wilder Variantenreichtum
Und dann geht es erst so richtig los mit den Möglichkeiten. Der Grund dafür: Die Forderung, transparente Flächen zu markieren, wurde schon immer heftig kritisiert. Planer:innen empfinden schon die Anforderung an sich oft als groben Eingriff in ihre Vorstellung von Ästhetik. Durch die Empfehlungen zur Gestaltung, die die Norm enthält, fühlen sich viele noch mehr in ihrer Freiheit eingeschränkt. Darauf hat man versucht, im Zuge der Überarbeitung der ÖNORM B 1600 zu reagieren, indem man zeigt, dass viele Wege zum Ziel führen.
Das Ergebnis sind insgesamt fünf verschiedene Varianten der Markierung. Drei davon bestehen im Wesentlichen aus einer Markierung durch zwei horizontale Streifen in 90 cm und 150 cm Höhe. Die Varianten unterscheiden sich durch unterschiedliche Maße und in Abhängigkeit davon verschieden starke Kontrastanforderungen. Außerdem gibt es eine Variante, bei der die Streifen nicht durchgehend sein müssen, sondern nach bestimmten Vorgaben unterbrochen werden dürfen. Die anderen beiden Varianten bestehen in einer flächigen Markierung. Dabei wird der Bereich zwischen 90 cm und 130 cm über dem Boden mit Einzelelementen wie geometrischen Formen, Ziffern, Buchstaben oder ähnlichem markiert. Die Norm legt genau fest, wie sie angeordnet sein müssen und welchen Kontrast sie haben müssen.
Die Öffnungsrichtung der Türe kann man durch einen gut sichtbaren Türdrücker bzw. eine vertikale Griffstange erreichen oder indem man den Blick durch die Gestaltung der Markierung hinführt.
Alles glasklar?
Zugegeben, ein wohliges Gefühl der Entspannung und Gestaltungsfreiheit macht sich beim Anblick der vielen Varianten nicht unbedingt breit. Zumindest nicht wesentlich mehr als es die bisherigen Versionen der ÖNORM B 1600 geschafft haben. Gut zu wissen ist, dass nach wie vor gilt: Besser als die Norm ist nie verboten. Wer es schafft, die funktionellen Ziele für alle sehenden Menschen mit und ohne Sehbehinderung zu erreichen, dessen oder deren Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Und wer weiß: Vielleicht wird der Stein der Weisen in dieser Angelegenheit ja tatsächlich noch entdeckt!
Kontakt
Wie sieht es bei Ihnen aus: Haben Sie den Durchblick oder sind jetzt die Fragen überhaupt erst am Aufkeimen? Wollen Sie etwas genauer wissen? Dann melden Sie sich bei Doris Ossberger unter do@wortklaviatur.at